Sind Pferde ängstlich?
von Gertrud Pysall
In einer Wildpferd-herde bieten starke Leittiere jedem einzelnen Pferd Schutz und Sicherheit. Es hat wenige Gründe, Angst zu haben. Es ist zwar ein Fluchttier, aber das bedeutet nicht, dass es ein Angsttier ist. Im Gegensatz zum Beutegreifer flüchtet das Pferd als Beutetier bei Gefahr, es ist vorsichtig, aber nicht angsterfüllt. Ein neugeborenes Fohlen ist in der Regel auch eher neugierig und interessiert an allem, aber nicht ängstlich; selbst dann, wenn es in unserer Menschenwelt geboren wird. Pferde sind keine Angsthasen, sondern schlaue Herdentiere, die sich gerne der Führung eines kompetenten Leittieres anvertrauen.
Die Sprache des domestizierten Pferdes
Das domestizierte Pferd ist genauso intelligent, kann ebenso viel lernen und behalten, aber die Inhalte sind ganz andere. Es lernt sehr früh (meist in seiner Prägezeit) den Men-schen kennen und glaubt, er ist ein fester Bestandteil seines Lebens und seines Umgangs. Drum wendet es auch selbstverständlich seine Sprache bei uns Menschen an und fordert uns mit seinen Ritualen zu Kompetenzvergleichen heraus. Versteht der Mensch dieses Ansinnen nicht, fängt er an, dem jungen Pferd Verhalten an- und abzutrainieren. Dabei entstehen häufig die ersten Ängste des Fohlens, die uns dann im späteren Leben des Pferdes begegnen und uns und dem Pferd Probleme bereiten. Wir Menschen haben Angst vor Dingen, die wir nicht kennen, die wehtun (Zahnarzt), die unser Leben bedrohen können (Existenzangst), die uns hilflos machen und so weiter. Das ist beim Pferd nicht anders.
Ein Pferd macht jeden Tag Erfahrungen und lernt das daraus, was es daraus macht. Seine Bewertungen, seine Interpretationen sind es, die ihm die Dinge gut oder schlecht erscheinen lassen. Es erlebt Dinge einfach durch das Leben (Gewitter, Regen, Pfützen, Matsch, hell und dunkel …) und es hat Erlebnisse durch und mit uns Menschen. Dazu gehört im Grunde die komplette Erziehung und Ausbildung des Pferdes. Wir nutzen Lob und Tadel, um dem Tier zu vermitteln, was wir von ihm wollen. Alles, was wir zum Tadeln einsetzen, bereitet ihm entweder Schmerz oder Stress oder Hilflosigkeit: alles Inhalte, die wir als angstmachend festgestellt haben. Das bedeutet aber auch, wir verursachen und nutzen die Angst des Pferdes, um es so zu formen, wie wir es haben wollen. …
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