Untugend oder Selbstausdruck?
von Nina Steigerwald
Jeder kennt das vielleicht auch von unpünktlichen Menschen: Man selbst sitzt wie auf heißen Kohlen, und irgendwann nach der vereinbarten Zeit– deutlich danach – kommt derjenige mit einem freundlichen „Hallo, ist das nicht ein schöner Tag heute?“ in den Raum. Dieser Mensch versteht Ihren Unmut über sein (in Ihren Augen) Zuspätkommen wahrscheinlich überhaupt nicht. Und das nicht, weil er eine Untugend „hat“ oder „blöd“ ist. Sondern weil schlicht und ergreifend seine Wertewelt eine andere ist. Zwanzig oder dreißig Minuten nach einem Termin zu einem privaten Treen zu erscheinen, ist für ihn völlig im Rahmen. Genauso verhält es sich mit dem Pferd. Seine Wahrnehmung ist eine andere, als Sie es – aus Ihrer Sicht– sehen.
Wie vermeide ich Stalluntugenden?
Bei den sogenannten Stalluntugenden wie zum Beispiel dem Weben ist die Antwort relativ einfach: raus aus der Box, hinein in eine intakte Gruppe mit vernüntigem Raufutter- und Bewegungsangebot und ausreichendem Platz. Denn was will ein Pferd ausdrücken, wenn es auf seinen Vorderbeinen hin und her schaukelt? Dass es vor Langeweile fast zugrunde geht. Und wie verhält es sich, wenn es seine Vorderbeine dazu nutzt, am Anbinder oder bei allen anderen Gelegenheiten zu scharren? Zuerst springen einem nur die Auswirkungen dieser Untugend ins Auge: Es nervt, der Putzkasten wird umgeworfen, gar das Bein in den Strick gehängt; es wird gegraben, dass der Sand nur so fliegt oder man auf festem Boden Angst um das Hufhorn hat. Von gefährdeten Schienbeinen und Knien ganz zu schweigen. Zudem sind die anderen im Stall meist wenig begeistert davon, wenn dieses Pferd ihren eigenen Pferden ein solches Verhalten vormacht. Schließlich weiß man aus der Lerntheorie: Mimikry und Soziales beziehungsweise Nachahmungslernen sind ein Weg, auf dem sich Tiere neue Verhaltensweisen aneignen – und das möchte keiner haben. …
Lesen Sie mehr zum Thema im Artikel „Scharren, Zwicken, Knotenlösen“ in Natural Horse 40 03/2022
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